Marie war nicht allein im Tierheim.
Als sie damals nach Deutschland kam, ließ sie ihre Familie zurück. Einen Bruder, eine Schwester und ihre Mutter. Der Bruder wurde noch vor ihr vermittelt. Die Mutter und ihre Schwester Laura blieben zurück – im selben Tierheim in Andalusien, irgendwo in der staubigen Landschaft, wo die Tage lang und die Nächte kälter sind, als man denkt.
Die Mutter war alt. Nicht aussichtslos, aber eben keine schnelle Vermittlung. Und Laura war ein ganz anderer Schnack. Taub, verhaltensauffällig, unverstanden. Sie wurde gemobbt, wie so ziemlich jeder taube Hund in solchen Strukturen. Sie hörte es nicht, wenn sich nachts jemand näherte. Sie verstand die Regeln nicht, weil niemand sie ihr erklären konnte. Ihre Lösung: Rückzug. So oft es ging, ganz eng an ihre Mutter gekuschelt. Am liebsten in eine Ecke, ganz klein, ganz ruhig, ganz unsichtbar.
Wir hatten die beiden immer im Blick. Und irgendwann haben wir angefangen, zu planen. Meine Frau hat ihre Eltern bearbeitet – vielleicht könnten sie Maries Mutter übernehmen. Und wir? Wir würden Laura zu uns holen. Aber nicht sofort. Wir lebten noch zur Miete. Kein fester Platz, kein Eigentum, keine Garantie. Der Plan war: Sobald wir kaufen, holen wir sie.
Und dann sah es tatsächlich so aus, als würde es klappen. Unser Vermieter wollte verkaufen, das Haus gefiel uns, also sagten wir Ja. Wir fühlten uns sicher – vielleicht das erste Mal in dieser Konstellation. Ab zur Bank. Doch dann kam das große Aber. Ich hatte ein eigenes Unternehmen, rein B2C, mitten in Corona, es war 2020, und die Hausbank meinte nur: „Zu heiß, Herr Becker. Tut uns leid.“
Ich hatte keine Lust, mich durch weitere Banken zu quälen. Vielleicht war das ein Zeichen. Vielleicht sollte es nicht sein. Also verwarfen wir die Idee vom Kauf, suchten stattdessen nach einer neuen Mietimmobilie, gaben den Gedanken auf, Laura zu uns zu holen. Zumindest vorerst.
Zwei Wochen später. Ich komme morgens die Treppe runter, meine Frau steht am Küchentisch, den Tränen näher als allem anderen. Ich frage: „Was ist los?“ Sie schaut mich an und sagt: „Maries Mama hat eine Pflegestelle gefunden.“ Ich nicke. „Das ist doch gut, oder?“ Und sie schaut mich an. Still. Und sagt: „Das heißt, Laura bleibt jetzt ganz allein im Tierheim.“
Und da war er wieder, dieser Moment. Der Plan war anders. Die Situation war anders. Aber der Impuls war klar. Ich hab nicht lange überlegt. Hab nur gesagt: „Ruf da an. Wir machen das schon.“
Und Laura kam. Wie ein Tornado.
Sie kam direkt aus Spanien, mit einem Transporter. Wir fuhren hin, um sie abzuholen. Während alle anderen Hunde ruhig, vorsichtig, ein bisschen verwundert, aber friedlich aus ihren Boxen stiegen, hörten wir nur Terror. Gebell, Gekrampfe, blanke Energie. Laura zog wie eine Irre aus dem Fahrzeug. Kein Zögern, kein Zucken. Sie zerrte uns zu unserem Auto, wir ließen uns von ihr führen, setzten sie neben Marie. Damals wussten wir noch nicht, dass Marie der einzige Hund bleiben würde, den Laura jemals um sich dulden würde. Naja, fast der einzige. Irgendwann kam ja noch Rio.
Die nächsten Monate waren für alle die Hölle. Wir waren mitten im Umzug. Laura hatte vor allem Angst. Vor Türen. Vor Böden. Vor Menschen. Vor uns. Sie leckte sich die Pfoten wund. Ich saß nachts bei ihr mit einem feuchten Schwamm, strich ihr damit über die Pfoten, ganz vorsichtig – bis sie einschlief. Immer eng an eine Wand gepresst. Oder in einer Ecke. Hauptsache kein Raum, keine Offenheit, keine Möglichkeit, überrascht zu werden.
Jeder Gang über die Straße war ein Kampf. Ein anderer Hund? Eskalation. Ein fremder Mensch? Eskalation. Ein Stück flatterndes Absperrband? Eskalation. Sie hat mich dreimal gebissen. Nicht aus Hass. Aus Frust. Aus Überforderung. Weil sie nicht wusste, wohin mit dem Druck, der Angst, dem Nichtverstehen. Sie nahm über sieben Kilo ab. Hatte permanent Durchfall, Wir dachten sie stirbt. – Siehe Titelbild-
Wir holten Hundetrainer. Viele. Der eine riet zu wasserspritzen. Hat nichts gebracht. Der nächste meinte, wir sollten eine Socke mit Reis füllen und nach ihr werfen, wenn sie bellt. Mach ich nicht. Eine Trainerin behauptete, Laura sei nicht nur taub, sondern auch geistig behindert. Da sei nichts mehr zu machen. Die Letzte, die uns halbwegs verstand, zeigte Laura einen Welpen auf dem Arm – Laura griff sofort an. Die Trainerin sagte, sie wisse eine Auffangstation für besonders schwere Fälle. Sie könne da anrufen. Für uns.
Aber so ticke ich nicht.
Laura hat nie entschieden, bei uns zu sein. Das war unsere Entscheidung. Wenn ich Verantwortung übernehme, dann ganz. Ohne Hintertür, ohne Ausrede, ohne Rückgabeoption und ich bringe sie nicht ins nächste Gefängnis!
Ich habe meiner Frau vorgeschlagen, irgendwohin zu gehen, wo Laura Platz hat. Viel Platz. Kein Lärm, keine Stadt, keine Reize. Nur Raum und Zeit. Ich habe mit meinem Geschäftspartner gesprochen, auf 50 % meines Gehalts verzichtet um leben zu können wo ich will. Meine Frau hat ihren Job gekündigt. Die Tinte vom neuen Mietvertrag war noch nicht trocken da hatten wir das Haus wieder gekündigt. Laura war jetzt 3 Monate bei uns. Entscheidung getroffen. Innerhalb von 8 Tagen war alles fix. War für viele nicht nachvollziehbar – war mir aber egal. Es hat gepasst. Zu uns. Zu unserer Struktur.
Mein Plan:
Wir zeigen Laura drei Wochen lang, ihr neues Zuhause. Und dann lass ich sie frei. Wenn sie bleibt, bleibt sie. Wenn sie geht, geht sie.
Also auf nach Andalusien.
Wir haben ein Haus mitten im Nichts gemietet. Eigentlich war das schon immer unser Traum. Aber so ein Schritt mit eigener Firma in Deutschland ist nochmal eine andere Nummer. Trotzdem – wir sind gegangen. Haben sie mitgenommen. Und alles andere losgelassen. Möbel verschenkt. Die Küche war gerade 2 Monate alt. Das Fitnessstudio bekam ein Arbeitskollege meiner Frau. Alles was wir noch besaßen passte in den Kofferraum vom Jeep. Einfach rein ins Abenteuer.
Laura ist nicht weggelaufen.
Heute trägt sie ein GPS-Halsband, damit wir wissen, wo sie gerade wieder umherstreunt. Sie schläft nachts eng an mich gekuschelt. Und wenn sie aufwacht, schnappt sie nicht mehr um sich. Wir können mittlerweile gemeinsam an der Leine spazieren gehen. Den Rest des Tages kommt und geht sie, wie sie will. Sie lebt ihr Leben – so frei, wie es für sie passt. Und wir leben unseres. Besser als je zuvor.
Jetzt ist Marie weg aber Rio da. Er ist… sagen wir: ein entfernter Bekannter. Manchmal streifen die beiden gemeinsam durch die Berge. Dann verschwinden sie für ein paar Stunden, und irgendwann liegen beide wieder da – als wäre nichts gewesen.
Menschen, Autos, andere Hunde? Die hasst sie nach wie vor. Und das ist okay. Denn sie ist nicht hier, um Erwartungen zu erfüllen. Sie ist hier, weil wir Ja gesagt haben. Und wenn wir das sagen gilt das!
Noch was zum Schluss.
Mir ist völlig egal, wie viel jemand verdient. Wo jemand wohnt, was für’n Auto er fährt, wie groß sein Haus ist, ob er am Meer lebt oder in der Großstadt.
Wirklich – das alles interessiert mich null.
Solange du Verantwortung übernimmst.
Ich hab Firmen aufgebaut. Ich hab sie an die Wand gefahren. Ich hatte Geld, hab’s verloren, hab’s wieder verdient. Ich hab gut gelebt. Ich hab im Dreck gesessen. Ich war auf Bühnen, ich war in der Scheiße. Ich hab bezahlt, was ich zu zahlen hatte. Immer.
Ich bin nicht stolz auf Pokale oder Zahlen.
Ich bin stolz, dass dieser Hund heute bei mir ist.
Dass sie hier ist, weil wir’s zusammen durchgezogen haben – auch, als es keinen Grund gab, weiterzumachen und vielleicht haben wir Laura nie gerettet. Vielleicht ist sie einfach nur gekommen um uns zu sagen:“ Hey ihr Nasen, warum ziehen wir nicht einfach dahin wo es schön ist?“
Scheisse ist es geil zu leben! – BTW: Das Haus was wir ursprünglich kaufen wollten, hat jetzt seit 3 Jahren Wasser im Keller – Ich liebe Zeichen!